Michaela Joch

Studium „all inclusive“?

  • 03.05.2024, 09:57
Weiterhin bestehende Barrieren und eine enge Leistungsdefinition. Wie utopisch ist inklusive Bildung an den österreichischen Universitäten?
INFO: Die Definition von Behinderung richtet sich in diesem Artikel nach der UN-Behindertenrechtskonvention. Weiters wird zwischen Beeinträchtigungen – zum Beispiel Erkrankungen, Gehörlosigkeit, etc. – und Behinderungen unterschieden. Behinderungen entstehen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention erst durch die Wechselwirkungen zwischen dieser Beeinträchtigung und den Barrieren in der Umwelt bzw. Gesellschaft. Man spricht hier auch von „behindert werden“.

 

An den neoliberal geprägten Universitäten geht es vor allem um Effizienz, schnelle Abschlüsse und rasche Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt. Es gibt Zugangsprüfungen, Mindeststudienzeiten, eine Mindeststudienleistung mit Sperrfrist und Meilensteine, die durchaus das Potential zu Hürden haben (z.B. die Studieneingangsphase). Insgesamt ist das System Studium an einem Durchschnitt ausgerichtet, der sich in sehr engen Grenzen bewegt, was Zeit, Energie und andere Ressourcen betrifft. 

Demgegenüber steht nun aber die von Österreich ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention. Diese fordert ein diskriminierungsfreies und inklusives Studieren für alle. Inklusion bedeutet in diesem Kontext mehr, als nur Menschen mit Behinderungen „in die ausgrenzende Gesellschaft“ einzuschließen, wie die Sozialforscherinnen Marianne Hirschberg und Swantje Köbsell betonen. Sie unterscheidet sich damit klar von integrativen Bildungskonzepten. 

Dass Verbesserungen für Studierende mit Behinderungen angestrebt werden, zeigt sich unter anderem an den mit dem Diversitas-Preis ausgezeichneten Projekten, aber auch generell an einem verstärkten Fokus auf das Thema. Gleichstellung und Diversitätsmanagement werden als „wesentliche Bestandteile der gesellschaftlichen Verantwortung der Universitäten“ gesehen, wie das Bildungsministerium schreibt.

Dennoch wurden im Zuge meiner Interviews für die Dissertation weiterhin bestehende bauliche Barrieren genannt. Darunter fällt unter anderem, dass Aufzüge nicht in alle Stockwerke fuhren, Rampen zu steil oder Türbeschriftungen zu klein waren. Ebenso braucht es ein vermehrtes Anbieten von Schriftdolmetschung, eine zugänglichere Laborumgebung und einen Abbau technischer Barrieren.

Für Studierende mit Behinderungen gibt es bei Bedarf überdies sogenannte Nachteilsausgleiche, wie die Prüfungszeitverlängerung, die sehr wesentlich und wichtig sind – gleichzeitig führen diese aber nicht dazu, dass sich das System verändert. Es wird von einem individuellen Problem, einem „Nachteil“, ausgegangen, den die Person geltend machen muss, um durch unterstützende Maßnahmen in das System, das als weitgehend neutral betrachtet wird, eingepasst zu werden. Also eher Integration als Inklusion.

Dass Studierende ihren „Nachteil“ geltend machen müssen, bedeutet, dass sie sich erklären und ihre Nachteilsausgleiche selbst aushandeln müssen. Nur eine Diagnose zu nennen, schafft kein vollumfängliches Verständnis für die erlebten Behinderungen im Studienalltag. Und da kommt es natürlich stark auf das Gegenüber an. Ist das Gegenüber verständnisvoll und offen oder denkt vielleicht, ich will mich vor etwas drücken? Hat die Person, die Kompetenz und die Ressourcen, um die Unterstützung erfolgreich umzusetzen? Kann ich meine Bedürfnisse überhaupt so kommunizieren, dass ich die Unterstützung bekomme, die ich brauche? Weiß ich überhaupt was ich brauche? Auch ein wichtiger Punkt, vor allem, wenn keine Vorerfahrung besteht. Und natürlich – Bedürfnisse können sich im Zeitlauf auch ändern, Hilfsmittel können aufhören zu funktionieren oder die bauliche Barrierefreiheit ist nicht mehr gegeben, weil man in einem anderen Gebäude studiert oder gerade eine Baustelle vor Ort ist. 

An den österreichischen Unis gibt es eigene Anlaufstellen mit Behindertenbeauftragten, die erfahrungsgemäß sehr engagiert sind und eben sowohl die Kompetenz, als auch die nötigen Mittel zur Umsetzung von Unterstützungsmaßnahmen haben. Aber selbst im besten Fall ist der Zugang zu Nachteilsausgleichen oder Maßnahmen zur Erhöhung der Barrierefreiheit damit verbunden, dass man seine Behinderungen bekannt gibt – was nicht alle Studierenden wollen. Die sich teils leider immer noch bewahrheitende Befürchtung ist, dass man dadurch Nachteile erlebt, anders behandelt wird oder verletzende Aussagen hören muss. Gerade Studierende mit psychischen Erkrankungen sind hiervon betroffen, was sich ebenfalls im Zusatzbericht der Studierendensozialerhebung gezeigt hat. Manche beschließen auch, nur einen Teil der Behinderungen preiszugeben, um in die enge Leistungsdefinition zu passen.

Überdies wurde aufgezeigt, wie viel Mehraufwand es mit sich bringen kann, durch diese individualisierende Sichtweise für sich selbst zugänglichere Studienbedingungen zu schaffen. Hinzu kommen bürokratische Angelegenheiten, die außerhalb der universitären Sphäre liegen und die etwa die Beantragung des Behindertenpasses, von Attesten, Pflegegeld, Transport- oder Assistenzleistungen betreffen. 

Eine interviewte Person hat sehr schön auf den Punkt gebracht, was vielfach implizit oder explizit geäußert wurde:

„Ich will ja auch nicht, dass da jetzt immer ganz speziell für mich Lösungen gefunden werden. Da bin ich auch irgendwie müde. Ich hätte gerne, dass es von Haus aus geht. Dass es auch darauf ausgerichtet ist, dass Menschen mit Einschränkungen das machen.“

Insgesamt ergeben sich einige Ansatzpunkte, um im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention die Barrierefreiheit für alle von vornherein zu erhöhen. Das beginnt bereits vor der Lehrveranstaltung – bei der Gestaltung zugänglicher Curricula, Unterrichtsmaterialien und Universitätsgebäude. Darüber hinaus wurden die Lehrenden als wesentliche Ansprechpersonen von Studierenden genannt, weshalb spezielle Trainings zu inklusivem Unterrichten hilfreich sein können. Barrierefreiheit sollte hier weiter gedacht werden, denn auch die Hörsaalgröße, die Belichtung, die Akustik, die didaktischen Methoden, Zeit, Zeitpunkt und Zeitrahmen haben einen Einfluss auf die Lernenden. Hinzu kommen noch unvorhergesehene Studienunterbrechungen und die Frage, wie damit umgegangen wird. Ferner ist die Studienorganisation wesentlich, dazu zählen zum Beispiel Anmeldeverfahren, die Prüfungsdichte oder die Regelung der Anwesenheitspflicht. In diesem Kontext ist die Online-Lehre, die während der Pandemie relativ flächendeckend ermöglicht wurde, besonders hervorzustreichen.  Obgleich es auch hier verschiedenste Barrieren geben kann, ist es mir dennoch ein Anliegen, mich für eine Beibehaltung – und kontinuierliche Optimierung – der geschaffenen Strukturen einzusetzen. Und zwar nicht als reines Entweder/Oder, sondern als wertfreie Ergänzung. Für all jene, die aus gesundheitlichen Gründen phasenweise oder eventuell für die Dauer des restlichen Studiums nicht in Präsenz teilnehmen können.

Mein Wunsch, der in naher Zukunft hoffentlich KEINE Utopie mehr ist, besteht darin, dass sich der Blickwinkel auf Studierende mit Behinderungen verschiebt. Beeinträchtigungen sollen nicht mehr als individuelles Defizit betrachtet werden, sondern die strukturellen Behinderungen sollen überdacht werden. Nimmt man die UN-Behindertenrechtskonvention als Richtschnur, sollte das Ziel sein, eine Kultur und ein Lernumfeld zu schaffen, das die Diversität von allen Lernenden versteht und fördert. Dazu gehört, die Zugänglichkeit in allen Belangen von vornherein größtmöglich zu erhöhen. Was nicht nur den Studierenden mit Behinderungen zugute kommen würde – eine Rampe beim Haupteingang hilft darüber hinaus jenen, die beispielsweise mit Kinderwägen unterwegs sind oder größere Ausrüstung transportieren müssen. Und auch wenn es in einigen Fällen weiterhin sehr wichtig sein würde, individuelle Lösungen zu finden, würde die Notwendigkeit der Offenlegung von Beeinträchtigungen zum Großteil obsolet werden, da Studierende frei wählen könnten und somit die Chance geringer wäre, dass sie überhaupt „behindert werden“. Denn eines zeigen Sheryl E. Burgstahler und Rebecca C. Corey: dass Nachteilsausgleiche jenen helfen, die sie brauchen und an der Leistung der anderen wenig verändern. Gleiches lässt sich für die generelle und in einem breiten Sinne gedachte Zugänglichkeit der einzelnen Studiengänge sowie der Universitäten feststellen.

Michaela Joch beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit (WU WIEN) mit der universitären Zugänglichkeit.

 

Literatur:

Hirschberg, M. & Köbsell, S. (2016) Grundbegriffe und Grundlagen: Disability Studies, Diversity und Inklusion. In I. Hedderich et al. (Hrsg.), Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik (S. 555-568). Verlag Julius Klinkhard.
Burgstahler, S. E. & Corey, R. C. (2010) Universal Design in Higher Education: From Principles to Practice (1. Aufl.). Harvard Education Press.
 

Weiterführende Information:

UN-Behindertenrechtskonvention https://www.sozialministerium.at/
Studierendensozialerhebung https://www.ihs.ac.at/
Ansprechpersonen an den Universitäten https://www.uniability.org/
 

Foto © M. Letizia Ristoni